„Nur wenn man nach draußen geht, kann ein inklusives Leben gelingen.“

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Frau Thumer, Sie wurden sehr jung bei einem Unfall, in dessen Folge die Beine amputiert werden mussten, verletzt. Wie hat sich der Unfall zugetragen?

Ich war beim Unfall im März 1976 erst 15 Jahre alt und habe die sechste Klasse eines Oberstufengymnasiums besucht. Als Fahrschülerin nutzte ich den Zug und war nie zuvor aufgesprungen. Weil ich einmal zu spät dran war, wollte ich es einfach versuchen. Der Zug war jedoch schon zu schnell und so geriet ich unter den letzten Waggon.

Es folgten über drei Monate im Krankenhaus und etwa sechs Monate im Rehabilitationszentrum. Meine Familie und Schulfreundinnen haben mich oft besucht und mich gut begleitet. Und es war klar, dass ich weiterhin in die Schule gehen wollte, auch wenn ich ein Jahr verloren habe. Ich war überzeugt, dass ich mit Beinprothesen bald wieder fit sein würde. Dass sich der Alltag als beidseitig Beinamputierte doch mühsamer entwickelte, war bald sichtbare Realität.

Wie lief die Erstversorgung ab?

Ich hatte das Glück, dass es einen Bahnhofsvorstand gab, der sofort die Rettungskette in Gang setzte.  Meine Beine waren zerquetscht und das Aufheben durch die Sanitäter tat höllisch weh. Ich war bei vollem Bewusstsein und auf der Fahrt ins Krankenhaus dachte ich, so stirbt man also und man kann sich nicht einmal verabschieden.

Als ich aus der Narkose erwachte, hat mich der Primar über die erfolgte Amputation beider Beine informiert. Er hat mir zugleich Hoffnung auf eine gute Prothesenversorgung gemacht; ich würde genügend Schmerzmittel bekommen und mögliche Phantomschmerzen ließen sich medizinisch gut behandeln.

Welche Veränderungen haben Sie im Lauf der Jahrzehnte im Hinblick auf die Prothesenversorgung beobachtet?

Ich wurde vier Monate nach der Amputation im Rehazentrum mit Interimsprothesen (= Probeprothesen) versorgt. Der erfahrene Prothesentechniker bemühte sich umsichtig. In der Gehschule ging es Schritt für Schritt vorwärts. Ich hatte zwei großartige Therapeuten, die mir mit viel Geduld viel beibrachten mit Prothesen zu gehen. Zur Entlassung aus dem Rehazentrum bekam man damals neue Prothesen. Dies war für mich eine große Umstellung und mit neuerlichen Druckstellen an den Stümpfen sowie einem technisch hochwertigen Kniegelenk, das um einiges mehr wog, verbunden.

Ich habe etwas später einen Holzschaft mit einem – damals üblichen Holzknie – ausprobiert. Die Qualität des Schaftes war super, für mich als junges Mädchen war dieser Schaft jedoch zu wuchtig, zumal mein Oberschenkelstumpf sehr lange ist und somit das Kniegelenk nach unten verlagert wird. Also habe ich mich wieder für den Gießharzschaft entschieden. Die technische Entwicklung der Kniegelenke hat während meiner Zeit mit Prothesen (beinahe 50 Jahre) Riesenfortschritte gemacht. Derzeit bin ich mit einem Kenevo-Kniegelenk versorgt und damit zufrieden.

Die Versorgung meines sehr kurzen und knochigen Unterschenkelstumpfes ist für jeden Prothesentechniker eine Herausforderung. Zunächst wurde ich jahrelang mit Oberschaft (Hülse, Manschette) versorgt. Dann wagte ein mutiger Prothesenmechaniker es, mir eine Kurzprothese anzufertigen. Und darüber bin ich äußerst froh. Es folgte dann eine Umstellung auf Silikonstrumpf bzw. -liner, wobei sich dies jahrelang hinzog, weil die transplantierte Haut meines Unterschenkelstumpfes so sensibel reagierte.

Nicht zu vergessen ist die Gewichtszunahme. Ich habe drei Kinder bekommen und während einer Schwangerschaft ist eine optimale Prothesensituation von enormer Bedeutung. Die Prothesen sind mit meiner allmählichen Gewichtszunahme während des Älterwerdens mitgewachsen.

Wir möchten mit dem Projekt auch dazu beitragen, dass diverse Bedürfnisse von Prothesenträger*innen ganz spezifisch gesehen und in weiterer Folge abgedeckt werden. Was wären Ihrerseits Wünsche an die Versorgung?

Ein Meilenstein in der prothetischen Versorgung war der Silikonliner. Seit sich meine Haut dran gewöhnt hat, hatte ich am Unterschenkelstumpf keine blutenden Druckstellen mehr. Ein Problem ist jedoch der Schweiß. Da braucht es unbedingt eine Weiterentwicklung.

Mit einer optimalen Stumpflänge ließe sich die Prothesenversorgung leichter umsetzen. Mein langer Oberschenkelstumpf hat zwar den Vorteil, dass das Stumpfende gut belastbar ist, jedoch den Nachteil, dass der Prothesenschaft unnatürlich lang wird und somit das Kniegelenk nach unten „rutscht“. Der Unterschenkel muss nun kürzer gebaut werden. Dadurch ist das Gangbild schwer beeinträchtigt. Dennoch wäre für mich die nachträgliche Kürzung des Oberschenkelknochens aus optischen Gründen niemals eine Option gewesen.

Wie setzen Sie Ihre Prothesen im Alltag ein?

Während meiner Schulzeit habe ich drauf geachtet, die Prothesen nur stundenweise zu tragen. Als Berufstätige waren durchschnittlich zwölf bis sechzehn Stunden Tragedauer normal. Seit ich in Pension bin, genieße ich das bewusste Anziehen der Prothesen und gönne meinen beiden Stümpfen angemessen viel prothesenfreie Zeit.

Sie engagieren sich gerne bzw. haben sich immer stark in Vereinen und für Betroffene stark gemacht. Was sind Ihre wichtigsten Anliegen?

Als frisch Amputierte hat es mir im Krankenhaus sehr geholfen, dass die Stationsschwester einen Besuch von einem beinamputierten Patienten und Prothesenträger ermöglicht hat. Ich habe seine Prothese anschauen und ihn über seinen Alltag befragen können. Besonders beeindruckt hat mich jedoch eine Frau, die mir geschrieben hat. Sie war, wie ich, beidseitig beinamputiert, berufstätig, fuhr Auto und hatte Familie. Ihr war es ein Anliegen, mir zu zeigen, dass man als amputierte Frau belastbar ist und durchaus ein „normales Leben“ führen kann.

In der Selbsthilfegruppe „Leben mit Amputation“ ist es mir wichtig, als Ansprechperson für Betroffene und Angehörige erreichbar zu sein. Mit jemanden reden zu können, der weiß, wie sich Phantom-, Stumpf-, Druckstellen- und Narbenschmerzen anfühlen, erleichtert und fördert die Gedanken, wie sich nun die Zukunft als amputierter Mensch aktiv gestalten lässt. Der Austausch untereinander tut gut. Da tauchen z.B. Ideen auf, wie man realistische Ziele erreichen kann. Und man muss nach draußen gehen und sich mit seiner Umwelt auseinandersetzen. Nur so kann inklusives Leben gelingen.

Was ist Ihre Empfehlung an frisch Amputierte?

Wenn man als Jugendliche, wie ich, durch einen Unfall plötzlich beide Beine verliert, ist das sicherlich anders, als wenn man sich als reifer Mensch durch Erkrankung oder Verletzung mit einer Amputation auseinandersetzen muss.

Ich glaube, es ist hilfreich, auf die eigenen Stärken zu vertrauen und möglichst rasch wieder aktiv zu werden. Dazu braucht es viel Vertrauen zum medizinischen und therapeutischen Personal. Ganz wichtig ist es, einen guten Prothesentechniker zu finden und das Material zu wechseln, wenn die Prothese oder der Schaft, etc. nicht passend sind.

Meiner Erfahrung nach braucht es etwa fünf Jahre, bis man sich mit der neuen Situation als Amputierte*r identifiziert. Manche Herausforderungen schafft man sofort, andere löst man erst beim zweiten Anlauf. Das Akzeptieren einen Körperteil verloren zu haben und damit gut umzugehen, braucht Geduld und Ausdauer. Aber es lohnt sich!

Was hat Ihnen persönlich – mental oder physisch – am meisten geholfen?

Zunächst war für mich der familiäre Rückhalt und das entgegengebrachte Mitgefühl äußerst hilfreich. Das Personal im Krankenhaus und im Rehazentrum haben mich trotz meines jungen Alters ernst genommen und mir Zeit gelassen, selbst aktiv zu werden. Meine Ziele Ausbildung, Beruf, Auto, Familie, Sport konnte ich großteils umsetzen, weil ich immer wieder wunderbare Menschen getroffen habe, die mich unterstützt haben. Die Lebensfreude und Zufriedenheit haben in meinem Leben einen hohen Stellenwert.

Vielen Dank für Ihre Offenheit!