„Ich rate jeder Person, dass sie die Prothese als Teil von sich annehmen soll.“ Michael Sauer, Prothesenträger und Parahockeyspieler im Interview

Mann mit Prothese an einem Gewässer
  • Mit unserem Forschungsprojekt möchten wir vor allem die Individualisierung der Prothesenanpassung vorantreiben. Wo siehst du derzeit die größten Verbesserungspotenziale?

„Ich persönlich sehe in der modernen Sensortechnologie das größtmögliche Verbesserungspotential. Durch bessere Überwachung der Gangphasen und einen Machine-Learning-Algorithmus kann die Prothesensteuerung und somit das Gangbild und das Prothesenverhalten verbessert werden. Mittels zusätzlicher Sensorik am gesunden bzw. erhaltenen Bein können weitere Informationen zur Gangart gesammelt und an die Prothese übermittelt werden. Dadurch können das Gangbild verbessert und die Sicherheit erhöht werden.
Ebenso sehe ich Verbesserungspotential im Schaftbau. Durch den 3D-Druck können die Schaftformen individuell angepasst und schnell gefertigt werden. Zudem kann Sensortechnologie direkt im Schaft eingeplant und beim 3D-Druck berücksichtigt werden. Dies hätte den Vorteil, dass man Muskelbewegungen aufzeichnen kann und diese der Prothesensteuerung zur Verfügung stellt, um das Gangbild weiter zu verbessern. Der Schaft ist definitiv die wichtigste Komponente einer Prothese. Die modernste Prothese bringt den Anwender:innen nichts, wenn die Stumpf-Schaft-Verbindung nicht passt und zu Problemen wie Hautirritationen, Druckstellen oder Ähnlichem führt.“

  • Wie würden umsetzbare Verbesserungen in der Anpassung deinen täglichen Komfort verbessern?

„Wenn der Schaft gut sitzt, wird der Tragekomfort verbessert und die genannten Probleme würden reduziert oder sogar eliminiert werden. Zudem würde das Gangbild und damit der Energieverbrauch bzw. die Anstrengung bei den Anwender*innen gesenkt. Außerdem würde die Sicherheit beim Gehen verbessert werden. Die Geländegängigkeit der Prothese und das alternierende Gehen über Stufen und Steigungen, bringen den Anwender:innen einen wesentlichen Vorteil und würden den Komfort steigern. Im Idealfall sollte die Prothese den Anwender:innen im Alltag auf jedem Schritt folgen und ihnen nicht vorgeben, was möglich ist. Hierzu muss die Prothese mit Aktuatoren ausgestattet werden und  es müssen ausreichend Daten in Echtzeit gesammelt werden, dass eine sichere und dauerhafte Steuerung der Prothese realisiert werden kann.“

  • Allgemein heißt es, dass Prothesen vor allem von weiblichen Träger:innen schlechter angenommen werden, weil aktuell noch zu wenig auf individuelle Bedürfnisse (Muskelmasse, Bedürfnisse im Alltag, Passung und Sensorik) eingegangen wird. Welche Erfahrungen hast du damit?

„Hierzu ist klar zu sagen, dass ein:e Anwender:in, die eine Prothese als Teil von sich, unabhängig von Funktionalität und optischem Erscheinungsbild annimmt, wesentlich besser damit zurechtkommt. Unabhängig vom Geschlecht habe ich dieses Problem schon bei verschiedenen Anwender:innen beobachtet. Eine Prothese kann eine fehlende Gliedmaße nicht so ersetzen, als ob nichts wäre. Mit gewissen Einschränkungen und Problemen muss gerechnet werden. Wichtig ist hier meines Erachtens die Erstreha in der die Prothese an die Anwender:innen angepasst wird. Ganz wichtig ist, dass Anwender:innen ganz klar definieren, welche Anforderungen an die Prothese gestellt werden, damit diese bestmöglich angepasst werden kann. Das optische Erscheinungsbild kann durch Kosmetik nachgebessert werden, wenn es wichtig ist.

  • Du bist als Prothesenträger und auch durch deine Masterarbeit Experte mit einer Multiperspektive. Was rätst du jemandem, der frisch amputiert wurde und sich erstmals mit dem Thema Prothesen am Bein beschäftigt? Wo ist die erste Anlaufstelle?

„Ich rate jedem, die Prothese anzunehmen. Im Idealfall betrachtet man sie wie einen Schuh, den man anzieht. Wenn man die Prothese von sich aus nicht akzeptiert, wird man immer Probleme haben oder diese sogar ablehnen und nicht tragen. Ich erzähle im Regelfall über meine Erfahrungen. Durch eine Amputation ist das Leben nicht vorbei, es kommt darauf an, was man daraus macht und wie man damit umgeht. Die erste Anlaufstelle ist der behandelnde Arzt. Im Idealfall kontaktiert die betroffene Person den österreichischen Amputiertenverband und bittet um ein Gespräch. Ich bin Mitglied im Verband und habe schon einige Anfragen bekommen und Gespräche geführt. Ein Gespräch mit einer betroffenen Person ist im Regelfall für eine frischamputierte Person sehr aufschlussreich, nimmt die ersten Berührungsängste und beantwortet die aufkommenden Fragen.“

  • Wo gibt es Lücken z. b. In der Aufklärung, bei der Unterstützung oder in der Umsetzung?

„Eine wesentliche Lücke sehe ich darin, dass viele Krankenhäuser und Ärzte den Amputiertenverband nicht kennen und den Tipp für das Gespräch mit einer betroffenen Person nicht weitergeben können. Bei der Unterstützung gibt es einige Lücken, angefangen von den Anträgen, über die Bewilligung bis hin zur Versorgung. Auch hier kann man beim Amputiertenverband um Hilfe anfragen. Bei der Umsetzung kommt es auf die Kommunikation zwischen Patienten, behandelnden Ärzten, Physiotherapeuten und Prothesentechnikern an. Das Wohl der Patient:innen sollte oberste Priorität haben und auf spezielle Anforderungen bestmöglich eingegangen werden, damit die bestmögliche Versorgung erreicht wird.

  • Wir sind mit unseren Fokusgruppen und dem Projekt noch am Anfang und möchten den Output des Projekts für Prothesenträger*innen so gut und spezifisch wie möglich gestalten. Was möchtest du uns mit auf den Weg geben?

„Ich rate dazu den Teilnehmer:innen möglichst konkrete Fragen zu stellen und auf die machbaren Wünsche einzugehen. Natürlich wäre es gut, einen Durchschnitt zu erreichen, sodass unterschiedliche Jahrgänge und Geschlechter mit in die Forschung einfließen.“

Vielen Dank für das Gespräch!