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BEWUSSTSEIN STÄRKEN: Schwerpunkt Autismus

Das Projekt SENSHOME wird im Rahmen des Kooperationsprogramms Interreg V-A Italien-Österreich aus dem Europäischen Fond für regionale Entwicklung kofinanziert.

Der internationale Welt-Autismus-Tag findet jährlich am 2. April statt. In diesem Rahmen organisierte der Forschungsbereich Active and Assisted Living [1] der Fachhochschule Kärnten am 13.4.2021 einen regionalen Austausch, um das Bewusstsein für das Thema Autismus zu stärken und die Forschungsarbeit in diesem Bereich zu präsentieren.
[1] Forschungsgruppe Active and Assisted Living (AAL) und Institute for Applied Research on Ageing (IARA)

Ein Forschungsprojekt in diesem Zusammenhang ist SENSHOME. Im Projekt SENSHOME wird ein neues Smart-Home-Design entwickelt, um Menschen im Autismus-Spektrum in ihrer Autonomie und Unabhängigkeit zu unterstützen. Der Leitgedanke des Projekts ist die Förderung autonomen Wohnens und damit die Verringerung des Betreuungsbedarfs bei gleichzeitigem Schutz der Privatsphäre. Gezielt im Wohnraum eingesetzte Sensorik soll mögliche Risiken erkennen und anhand der Anpassung der Raumbedingungen wie Temperatur, Luftfeuchtigkeit oder Akustik den Komfort und das Wohlbefinden erhöhen sowie Energieeinsparungen ermöglichen. Parallel dazu wird ein neues Smart-Home- und Innenraumkonzept entwickelt, das auf die Bedürfnisse von Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung in unterschiedlichen Wohnumgebungen (Häuser, Wohnungen, betreute Wohneinheiten) abgestimmt ist.

Für die Veranstaltung am 13.4. konnten interessante Persönlichkeiten gewonnen werden, die spannende Beiträge zum Thema Autismus präsentierten:

  • Dr.in med. Christine Preißmann ist Fachärztin für Allgemeinmedizin und Psychotherapie, die selbst mit 27 Jahren die Diagnose Autismus erhalten hat.
  • Elea Engel ist Studentin, hat eine diagnostizierte Autismus-Spektrum-Störung und war und ist im SENSHOME-Projekt mitbeteiligt.
  • Mag.a Maria Hirczy ist Psychologin für Trainingswohnen und Teilzeitbetreutes Wohnen für Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung bei alpha nova in Graz.

Durch das Programm führte DIin Sandra Lisa Lattacher, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt SENSHOME.

Die groben Eckpunkte des Projekts SENSHOME wurden zu Beginn von Frau DIin Daniela Krainer vorgestellt. Sie ist diplomierte Ergotherapeutin und Medizintechnikerin, Projektleiterin von SENSHOME an der Fachhochschule Kärnten und Expertin im Bereich der benutzer*innenzentrierten Entwicklung und Evaluierung von AAL-Technologien.

SENSHOME ist ein INTERREG V-A Italien-Österreich-Forschungsprojekt im Zeitraum 2019 bis 2022 und wird durch den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) und den Kärntner Wirtschaftsförderungsfonds (KWF) kofinanziert. Neben der Fachhochschule Kärnten gehören die Freie Universität Bozen, die Universität Triest und das Unternehmen Eureka Systems der Projektpartnerschaft an. Aus Kärnten sind außerdem Inklusion:Kärnten und P.SYS Caring Systems als assoziierte Partner*innen beteiligt.

Abbildung 1: INTERREG V-A Italien-Österreich und Standorte von SENSHOME-Partner*innen

Lukas Wohofsky, MSc BSc, diplomierter Gesundheits- und Krankenpfleger mit Erfahrungen in der Hauskrankenpflege, Absolvent des Studiengangs Health Assisting Engineering sowie wissenschaftlicher Mitarbeiter in SENSHOME, gab konkrete Einblicke in die Arbeitsweise des Projekts. Insbesondere stellte er den Nutzer*innenzentrierten Design Prozess vor und erläuterte, wie es die Anwendung verschiedener partizipativer Methoden ermöglichte, ausgehend von allgemeinen, groben Anforderungen zu einer Reihe konkreter Funktionalitäten, siehe Abbildung 2, und deren Umsetzung zu gelangen. In SENSHOME wurde und wird gemeinsam mit Jugendlichen und Erwachsenen im Autismus-Spektrum sowie mit ihren Familien und Betreuungspersonen geforscht, denn die späteren Endnutzer*innen stehen bei diesem Forschungsansatz immer im Mittelpunkt.

Abbildung 2: Beispiele von Funktionalitäten in einer SENSHOME-Umgebung

Auf die Frage, ob man es überhaupt als Fortschritt sehen könne, wenn persönliche Aktivitäten von digitalen Maßnahmen ersetzt werden, verwies Herr Wohofsky darauf, dass hier immer ein Mittelweg zwischen technischer und persönlicher Unterstützung gesucht werde. Das große Ziel sei es, die Selbstständigkeit von Menschen mit Autismus und der Personen in ihrem Umfeld zu stärken. Obwohl es wohl keine allumfassende Lösung geben könne, werde hier versucht, in eine für den*die Endnutzer*in passende Richtung zu gehen. Frau DIin Krainer ergänzte später noch, dass soziale Kontakte ein ganz essenzielles Thema seien, das von vielen Blickwinkeln aus betrachtet werden müsse. Technische Hilfsmittel sollen keine Kontakte ersetzen, können aber gewisse Tätigkeiten abnehmen, damit mehr Zeit für soziale Aktivitäten bleibt.

Als nächster Programmpunkt folgte ein Interview mit Elea Engel. Das Interview wurde vorab als Video aufgezeichnet und während der Veranstaltung über einen Stream geteilt. Elea gibt im Gespräch mit DI Philip Scharf berührende Einblicke in die Erlebnisse rund um ihre Diagnose und in ihre Erfahrungen aus dem Alltag. Ebenso teilt sie interessante Perspektiven auf gesellschaftliche Umstände, auf die Akzeptanz gegenüber Menschen mit Autismus generell, und spricht über diagnosebezogene Communities und Gruppen, in denen sie sich einbringt.

Das Video finden Sie zum Nachschauen unter folgendem Link:

Frau Dr.in Preißmann, Fachärztin für Allgemeinmedizin und Psychotherapie, hat selbst mit 27 Jahren die Diagnose Autismus erhalten und betreibt seit März 2021 eine Praxis für Psychotherapie in Deutschland (Roßdorf – Landkreis Darmstadt-Dieburg). Hier bietet sie allgemeine psychotherapeutische Leistungen für ihre Patient*innen an. Frau Dr.in Preißmann engagiert sich auf vielfältige Weise für Menschen mit Autismus. In ihrem Vortrag gab sie einen fachlichen Einblick in das Thema Autismus und erzählte über ihre frühen persönlichen Erfahrungen mit der Diagnose in Schule, Arbeit und Beruf.

Die Präsentationsfolien von Frau Dr.in Preißmann stellen wir Ihnen hier zur Verfügung:

Frau Mag.a Hirczy ist klinische Gesundheitspsychologin bei alpha nova in Graz und betreut Menschen mit Asperger-Autismus und hochfunktionalem Autismus in Wohngemeinschaften im Sinne der Förderung eines selbstständigen Lebensalltags. Ihre Präsentation gliederte sich in die drei wichtigsten Säulen im Rahmen ihrer Arbeit: die Stressreduktion, die Selbstorganisation und die Persönlichkeitsentwicklung. Zu allen drei Punkten führte sie spannende Perspektiven und Methoden aus ihrer Arbeitspraxis an. Die Frage, inwieweit SENSHOME für die ihr bekannten Wohneinheiten von Relevanz sei, beantwortete sie mit der Einschätzung, dass sie großes Potential in SENSHOME sehe. Im Vordergrund stehe jedenfalls die Lebensqualität Betroffener. Der Überwachungsfaktor führe zwar zu einem höheren Maß an Selbstständigkeit und weniger Vor-Ort-Unterstützung, da einige Gefahren durch das System „abgenommen“ werden, dadurch könne mehr Freiheit gewährleistet werden. Andererseits müsse man ganz klar den ethischen Aspekt mitbedenken. Frau DIin Krainer bestätigte dies und ergänzte, dass der Nutzen klar erleb- und erkennbar sein müsse und insbesondere der ethische Blick wichtig sei.

Den Überblick über die drei Säulen und die Präsentation von Frau Mag.a Hirczy finden Sie hier:

Im letzten offiziellen Programmpunkt bestand für eine Stunde die Möglichkeit, sich frei über die gehörten Themen auszutauschen. Es konnten Fragen gestellt werden oder einfach Meinungen geteilt und Diskussionen geführt werden.

Die erste Frage aus dem Publikum betraf das selbstständige Wohnen: „Wie erkennt man, wann es für einen Menschen mit Autismus der richtige Zeitpunkt ist, aus dem Elternhaus auszuziehen – beispielsweise in eine betreute Wohngemeinschaft?“

Frau Dr.in Preißmann antwortete darauf, dass es kein richtig oder falsch gäbe – sie selbst sei beispielsweise mit 45 Jahren ausgezogen. Jeder Fall müsse individuell angesehen werden und die persönlichen Fähigkeiten, die Gesamtsituation und die individuellen Wünsche abgewogen werden. Mit den Betroffenen sollte gemeinsam eine Lösung gefunden werden – junge Menschen sollten generell die Möglichkeit bekommen, ein eigenständiges Leben zu führen. Auch Testwohnen wäre in diesem Zusammenhang eine gute Zwischenlösung.

Frau Mag.a Hirczy ergänzte, dass Selbstständigkeit schon zu Hause schrittweise gelernt werden könne, indem konkrete Aufgaben übergeben werden. Das Elternhaus könne die sozialen Kontakte mit gleichaltrigen Personen nicht ersetzen.

Auf die Frage, ob auf Einzel- oder eher Zweierwohngemeinschaften gesetzt werde, antwortete Frau Mag.a Hirczy, dass beides gleichermaßen gefördert werde. Mit der Coronapandemie wurde zudem das Interesse am selbstständigen Wohnen größer. Die Entscheidung zwischen einer Einzel- oder Mehrparteienwohnung sei sehr individuell.

Aus dem Publikum kam die Frage, wie sehr die Diagnose von Frau Dr.in Preißmann ihr bei der Unterstützung anderer Autist*innen helfe. Tatsächlich hilft es ihr, die Schwierigkeiten von Autist*innen besser nachzuvollziehen. Ihre Patient*innen fühlen sich oft ausgebrannt, obwohl sie noch nicht oder kaum gearbeitet haben, das können neurotypische Menschen oft nicht nachvollziehen. Auch die sensorische Überbelastung könne von neurotypischen Menschen nur schwer nachvollzogen werden. Die eigene Diagnose habe im Therapiesetting mit anderen Autist*innen aber beides – Vor- und Nachteile. Frau Dr.in Preißmann erzählte außerdem, dass es neben der Kindheit noch speziell zwei kritische Zeitpunkte gäbe. Der erste sei der Beginn des Erwachsenenalters, wenn die Struktur der Schule wegfällt und oft zu diesem Zeitpunkt noch keine Strategien für das weitere Leben entwickelt wurden. Danach werde es etwas ruhiger. Im mittleren Erwachsenenalter komme eine weitere Krisensituation rund um längere und intensive Arbeitsphasen hinzu. Hier werden oft zusätzlich Burnouts diagnostiziert. In Summe helfen eine gute Unterstützung und eine kontinuierliche Arbeitstätigkeit.

Eine weitere Frage drehte sich um das Alter und den Zeitpunkt, wann Diagnosen am häufigsten gestellt werden, und darum, ob Schulpsycholog*innen, Sozialarbeiter*innen und Lehrer*innen dafür speziell geschult seien. Laut Frau Dr.in Preißmann werden immer mehr Veranstaltungen für Lehrer*innen angeboten, speziell auch in Österreich, und auch Sozialarbeiter*innen und Psycholog*innen sind sich immer mehr der Thematik rund um Autismus bewusst. In diesem Bereich tut sich viel an den Schulen, auch in Österreich. Laut Frau Mag.a Bierbaumer von Inklusion:Kärnten – assoziierte Partnerin in SENSHOME – gibt es außerdem vermehrt Diagnosen im frühen Kindesalter. Für den Schulbereich gibt es bei Inklusion:Kärnten ein spezielles Team, das konkret in diesem Bereich gut geschult ist. Dieses Team kann von Schulen zur Beratung und Unterstützung hinzugezogen werden. Dennoch sei die Situation generell noch ausbaufähig.

Die Beobachtung, dass in Österreich ein defizitorientiertes Bild von Autismus – auch durch ein sehr einseitiges Therapieangebot (Verhaltenstherapie) – verfestigt und gehalten werde, wurde von Frau Mag.a Bierbaumer mit folgenden Worten kommentiert: „Verhaltenstherapie ist nicht immer defizitorientiert.“ Die Therapie erfolge in individueller Abstimmung auf die Person und beruhe auf der wesentlichen, tragenden Säule von Beziehungen. Es werde verhaltensorientiert gearbeitet, auf Beziehungen werde im Allgemeinen viel Wert gelegt. Laut Frau Dr.in Preißmann stimmt es, dass der Fokus oft auf einem defizitorientierten Ansatz liegt. Es könne aus verschiedenen Gründen leider nicht immer auf die Stärken Bezug genommen werden. Insbesondere gehe es hier auch um die Finanzierung. Die finanzielle Unterstützung wird anhand der Defizite bemessen. Ein defizitorientiertes Autismusbild sei aber unabhängig von der Therapieform. Die Verhaltenstherapie sei eine der wichtigsten Maßnahmen für Autist*innen. Frau Mag.a Bierbaumer konnte aus der Praxis erklären, dass grundsätzlich versucht werde, dass Autist*innen mit der Welt, wie wir sie kennen, besser umzugehen lernen. Aber auch das Umfeld müsse teilweise umstrukturiert werden und „Autismus-freundlicher“ gestaltet werden. Hier könne sich ein Widerspruch zur Verhaltenstherapie ergeben.

Auch Frau Mag.a Hirczy sagte aus eigener Erfahrung, dass man tatsächlich manchmal das Gefühl habe, dass nur an den Defiziten gearbeitet werde. Es würde zwar vermehrt versucht, an den Stärken und ressourcenorientiert zu arbeiten, aber hier könnte noch viel mehr in diese Richtung passieren.

Aus dem Publikum wurde noch ergänzt, dass es insbesondere im jugendlichen Alter oft ein heikles Thema sei, wenn ständig nur Dinge verbessert werden sollen. Man könne auch mehr auf motorische Fähigkeiten setzen, in denen Fortschritt erzielt werde, und damit gleichzeitig das Selbstbewusstsein stärken. Frau DIin Krainer stellte hier den Konnex zur Ergotherapie her.

Elea Engel hat im Interview über Communities gesprochen und dabei Autism Speaks [2] kritisch beleuchtet. Die nächste Frage ging daher an alle, nämlich welche Erfahrungen mit Autismus-Communities und Anlaufpunkten zu Autismus im Internet bisher gemacht wurden. Frau Mag.a Hirczy ist sich sicher, dass ohne Communities viele gar nicht diagnostiziert wären. Selbstdiagnose geschehe oft über die Gruppen/Communities und erst später dann beim Arzt*bei der Ärztin. Oft gäbe es schon früh Fehldiagnosen (Essstörungen, Depressionen, Burnouts,…), welche zwar Komorbiditäten von Autismus seien, aber eben nicht die eigentliche Diagnose. Autism Speaks und ABA [3] werden in der Community sehr kritisch gesehen – den Berichten zufolge zum Teil zurecht.

Frau Dr.in Preißmann sagte dazu, dass ABA heutzutage nicht immer so praktiziert werde, wie es früher gemacht wurde, und damit mittlerweile durchaus eine sehr sinnvolle Verhaltenstherapie sei. In Summe seien Communities sehr wichtig, gerade weil es wenig Fachleute gibt. Sie dienen als Anlaufstelle und Ansprechpartner*innen, können die professionelle Diagnostik und Therapie aber nicht ersetzen.

Frau Mag.a Hirczy empfiehlt in diesem Zusammenhang hilfreiche YouTube-Channels:

An diesem Punkt wurde der gemeinsame, respektvolle Austausch für diesen Tag beendet. Das Organisationsteam bedankte sich beim Publikum für die rege Teilnahme und die durchwegs positive Stimmung während der Veranstaltung. Damit ging ein spannender Vormittag zu Ende. Abschließend sprach das Organisationsteam eine offene Einladung an alle Anwesenden aus, die SENSHOME-Projektaktivitäten über die verschiedenen Informationskanäle weiterzuverfolgen, bis ein persönliches Treffen an der Fachhochschule Kärnten wieder möglich sei.

[2] Autism Speaks: Eine Non-Profit-Organisation, die 2005 von Suzanne und Bob Wright gegründet wurde.
[3] ABA: Angewandte Verhaltensanalyse oder Applied Behavior Analysis (ABA)

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